Interview mit Dawit Shanko

Hintergrund: Mit elf Jahren putzte Dawit Shanko in seiner Geburtsstadt Addis Abeba zum ersten Mal Schuhe. Im Jahr 1985, mit 17 Jahren, kam er nach Deutschland. Als Galerist lebt er heute in Berlin. Das Leben arbeitender Jugendlicher in Äthiopien ist noch immer zentraler Gegenstand seines Alltags. 2003 hat er den Verein Listros e.V. gegründet, um mit vielseitigen Projekten von nationaler und internationaler Reichweite Kinder und Jugendliche in Äthiopien zu unterstützen. Künstler und Architekten haben sich ihm angeschlossen und entwickeln in unterschiedlichen Kunst- und Austauschprojekten neue Ansätze für eine innovative Entwicklungszusammenarbeit.

Im folgenden Interview beschreibt Dawit Shanko die Lebenssituation der jugendlichen Schuhputzer und gibt Einblicke in die Ausstellung:

Herr Shanko, was sind die Glanzwerke?

"Berliner Glanzwerke" steht für eine ganze Reihe von Ausstellungen, Veranstaltungen, einem Dokumentarfilm und Diskussionen, die den Dialog mit Afrika ins Zentrum rückt. Wir organisieren die Reihe jetzt zum ersten Mal, wollen aber, dass sie sich fest im Kalender etabliert. Die ersten Glanzwerke bestehen aus der Ausstellung "Perspektivwechsel", der Präsentation eines Filmes über das Leben fünf junger Schuhputzer aus Addis Abeba von dem Filmemacher Oliver Mojen, der Schuhputzaktion "Shine On", an der Berliner Schulen beteiligt sind, und verschiedenen Diskussionsveranstaltungen.

Was verbirgt sich hinter dem Begriff Listros?

Es kommt aus dem Amharischen und bedeutet "glänzend machen", aber auch "Schuhputzer". Listros werden in Äthiopien Jugendliche genannt, die als Schuhputzer Geld verdienen. Wir setzen uns aber für alle jungen Menschen ein, die mit eigenständiger Arbeit Geld verdienen und ihre Zukunft selber in die Hand nehmen.

Soll das heißen, Sie werben für Kinderarbeit?

Nein. Wir werben für einen Perspektivwechsel und fordern auf, über das Thema Kinderarbeit differenzierter nachzudenken. 60 % aller Äthiopier sind jünger als 18 Jahre. Weder die Familien noch der Staat haben genügend Geld, allen den Schulbesuch zu finanzieren. Die Listros übernehmen in jungen Jahren Verantwortung für ihre Leben und sind stolz darauf. Mit dem Geld kaufen sie oft Hefte oder eine Schuluniform. Wer das verbieten möchte, hat nichts von den Lebensrealitäten junger Afrikaner verstanden und weiß auch nicht, wie ermutigend die Erfahrung ist, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Diese Kultur der Eigenverantwortung unterstützen wir und helfen den Listros, ihre Ziele zu erreichen: Als Schüler oder als Selbständige. Jeder nach seinen Möglichkeiten.

Welche Ziele verfolgt der Verein Listros e.V. und welche konkreten Projekte werden umgesetzt?

2003 habe ich Listros e.V. als deutsch-äthiopisches Kultur- und Bildungsprojekt gegründet. Unter dem Dach von Listros e.V. arbeiten Projektpartner verschiedener gesellschaftlicher Bereiche. Nach dem Motto "Partnerschaft statt Patenschaft" organisieren wir Workshops, Kunstausstellungen, Kunstaktionen und Bildungskooperationen mit Schulen und Hochschulen. Wir stoßen Diskussionen über die Rolle der Jugend in Afrika an. Dabei steht die Lebensrealität der arbeitenden Kinder im Mittelpunkt. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Künstlern, Architekten, Fotografen, Filmschaffenden, Designern, Entwicklungshilfeexperten, Wissenschaftlern und Rechtsanwälten entstehen neue kreative Lösungsansätze. Listros e.V. ist so erfolgreich, weil auch wir immer wieder den Perspektivwechsel wagen. So haben wir z. B. ein sehr spannendes Listros-Bildungsprojekt, bei dem der Verein direkt in Schulen geht und unter dem Motto "Gemeinsamkeiten entdecken" einen Dialog zwischen gleichaltrigen Schülern in Deutschland und Äthiopien anregt. Auf diese Weise entstehen Neugierde und persönliches Engagement. Wir teilen den gleichen Traum.

Welche Bedeutung haben die Schuhputzboxen, die im Rahmen der Ausstellung "Perspektivwechsel" vom 26.10. bis 07.11.2010 in der Potsdamer Platz Arkaden ausgestellt werden?

Im Sommer 2010 haben wir in Äthiopien einen mehrtägigen Workshop organisiert. Jeder Listro konnte seine alte Box gegen eine neue, funktionalere tauschen. Dazu haben wir die Listros gebeten, einen "Brief an die Welt" zu schreiben. 3.500 Boxen sind anschließend auf die Reise nach Berlin gegangen. Jede einzelne Box ist Botschaft und Sinnbild für das große Potential des jungen Afrika. Die Listros, für die wir uns engagieren, stehen stellvertretend für alle jungen Afrikaner, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und eigenverantwortlich und kreativ die Herausforderungen ihres Alltags mit Stolz bewältigen. Lassen Sie es mich mit den Worten der 15-jährigen Netsanet Getachew sagen: "Mit meiner Arbeit bringe ich mein Leben zum Glänzen". Wir wollen diesen Glanz sichtbar machen und laden die Berliner ein, sich auf diesen Perspektivwechsel einzulassen.

Welche Botschaft sollen die Besucher der Ausstellung mit nach Hause nehmen?

Wir wollen dazu beitragen, das Klischee des hoffnungslosen Krisenkontinentes Afrika aufzubrechen. Afrika kann und wird aus seiner Opferrolle herausfinden. Immer mehr Menschen in Afrika ergreifen Eigeninitiative und nehmen selbstbestimmt als Landwirte, Handwerker, Händler und Unternehmer ihr Leben in die Hand. Sie tun es unter Bedingungen, die viele von uns auf die Knie zwingen würden. Das hat unseren ganzen Respekt verdient. Wir nehmen die Listros in den Fokus und laden zu einem Perspektivwechsel ein, bei dem wir sie und ihre Glanzwerke in Äthiopien ebenso würdigen, wie diejenigen, die hierzulande die schwierigen Phasen des Lebens kreativ überbrücken und sich immer wieder neu erfinden.

Was ist in der Ausstellung zu sehen?

Im Mittelpunkt stehen Installationen aus den 3.500 Boxen und Briefen. In den letzten Jahren haben über 120 Künstler mit uns zusammengearbeitet. Die Werke, die hier und in Äthiopien entstanden sind, werden auszugsweise ausgestellt. Wir informieren über abgeschlossene und künftige Projekte.

Was kann man für Listros e.V. tun?

Einiges! Wir können an vielen Stellen Unterstützung und Engagement gebrauchen. Wir wollen schritweise Schüler davon befreien, dass sie wegen Schuluniform und Schulmterialien arbeiten müssen. So werden wir zunächst der ältesten Grundschule in Addis Abeba (mit ca. 4300 Schülern) Schuluniform frei zur Verfügung zu stellen. Ferner planen wir zum Beispiel eine Listros-Bank und weitere Aktivitäten, vor allem zur Qualifizierung und Ausbildung der Listros. Wir haben in der Vergangenheit festgestellt, dass sich manchmal überraschende Synergieeffekte ergeben, wenn Partner aus den unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch meinen ganz besonderen Dank den Partnern aussprechen, die uns heute schon unterstützen. Nur mit ihrer Hilfe konnten wir diese hochspannende und umfangreiche Ausstellung realisieren.