Die Idee

Die Initiative LISTROS hat im Jahr 2010 Schuhputzer, auch Listro genannt, in Addis Abeba eingeladen, ihre alten Boxen gegen neue zu tauschen und ihre Zukunftswünsche auf einem Blatt Papier zu verfassen. 3500 Schuhputzer kamen der Bitte nach und formulierten ihre persönlichen Reflexionen über die eigene Gesellschaft, ihre Wünsche, Träume und Fragen. Diese „Botschaften“ schickten sie in ihrer Box nach Deutschland.

Die Tauschaktion

Kiwi, das alt-ehrwürdige Unternehmen für Schuhpflegemittel, das in Äthiopien fast eine Monopolstellung hält, griff die Idee bereitwillig auf und finanzierte die große Tauschaktion in Addis Abeba: alte gegen neue, funktionstüchtigere Boxen, die von zwei Studenten der btk, Erik Berg und Niko Messerli entwickelt und durch  die Berliner Ausbildungswerkstatt  Hirnholz umgesetzt  wurde. Die einzelnen Teile der neuen Box sollten in Addis von Schreinern vorgefertigt und von Listros in Workshops in zentralen Stadtteilen zusammengebaut werden: Bauanleitung. Kiwi steuerte darüber hinaus noch Schuhcreme-Dosen bei und rote T-Shirts mit Werbung für die Listros Initiative und für Kiwi.

Die Aktion organisierte ein äthiopischer Filmemacher in Addis Ababa, Yared Gebreselassie mit seinem Unternehmen Yeshiwub Film and Communication PLC – im telefonischen Dauerkontakt mit Dawit Shanko in Berlin. Einmal in der Woche tagte die virtuelle Telefonkonferenz der Listros-Aktivisten in Addis und Berlin und der Vertreter der Kiwi-Büros in Deutschland, Barcelona (für Europa), Kapstadt (für Afrika) und Addis Ababa.

Listro Boxes made in China?

Foto: Paul Schäfer

Zuerst witterten die Box-Hersteller im Mercato von Addis, dem größten Markt Afrikas, das Geschäft ihres Lebens und verlangten astronomische Preise für die Bauteile des Hirnholz-Boxenmodells.

Als global operierender Konzern wandte sich darauf Kiwi an Holzverarbeiter in China, die im Handumdrehen eine dem äthiopischen Standardmodell angepasste Billigbox anboten. Dagegen argumentierte Dawit Shanko: „Aus der Listros-Philosophie der afrikanischen Eigenständigkeit drohte eine Farce zu werden. Sollte selbst die über 80jährige äthiopische Recycling-Tradition der auf einfachste Weise zusammengenagelten Boxen aus Abfall von Verpackungsholz der chinesischen Billigkonkurrenz zum Opfer zu fallen? Das wäre ein Hohn für Afrika gewesen. Einen schlimmeren „Beweis“ afrikanischer Unfähigkeit hätte die Aktion nicht in die Welt setzen können. Wir mussten also die Notbremse ziehen zugunsten der äthiopischen „Schreiner“. Ihre Arbeit war aber oft mangelhaft. Sie kauten lieber Kat, die Droge der Region, und missbrauchten unsere Unerfahrenheit. Die Einzelteile für die Hirnholzbox, die sie herstellten, waren so ungenau, dass sie nicht richtig zusammenpassten. Am Ende konnten sie nur solche Boxen liefern, die sie schon immer produzieren und die kaum besser waren als die alten. Auf diese Weise verzögerte sich die Aktion, unsere Pläne mussten geändert werden, Kosten stiegen – Umstände, mit denen in Äthiopien immer gerechnet werden muss – nicht nur dort.“

Massenauflauf

Foto: Britta Winzheimer

Dann galt es, geeignete Plätze zu finden, auf denen sich bis zu 500 Listros versammeln konnten, um an der Tauschaktion teilzunehmen. „Das war überraschend leicht“, berichtete Yared Gebresilassie, „denn auch im Zentrum der äthiopischen Hauptstadt gibt es noch unbebauten Raum, den Immobilienhaie zurück halten in der Erwartung, dass die Grundstückspreise weiter mit den Wolkenkratzern in die Höhe schießen – Addis fiebert derzeit im Bauboom. Sie waren bereit, solche Plätze günstig zur Verfügung zu stellen.“

Die erste Versammlung der Listros fand auf dem großen Parkplatz des Fußball-Stadion von Addis Abeba statt. Für diesen Tag waren 100 registrierte Listro eingeladen. Die Nachricht von einem Workshop für Listros hatte sich aber bereits Tage davor weit verbreitet, sodass mehrere Hundert Listros sich schon lange vor dem Beginn einfanden.

Wegen der unerwartet vielen Teilnehmer war eine geordnete open-air-workshop Atmosphäre unmöglich. Nur für die ersten ca. 50 Listro war es möglich, aus den 17 Bauteilen selbst eine eigene Box zu montieren. Für den Rest der Versammelten scheiterte das Vorhaben vor den Augen zweier Kiwi-Vertreter aus Kenia, die extra für den Kickoff-Workshop angereist waren.

Der  nächste Workshop sollte nicht nur die offizielle Eröffnung durch die Marathonlegende  H. Gebresilassie sein, sondern es sollte alles besser und geordneter ablaufen und auf dem Gelände vom Nationaltheater stattfinden, einem eindrucksvollen Gebäude, das aus der kurzen Zeit der italienischen Besatzung von 1936 bis 1941 stammt und im Baustil des faschistischen Monumentalismus gehalten ist. Es erschienen wieder so viele Listros, dass die meisten keinen Platz im Hof des Theaters finden konnten und der Verkehr auf einer der Hauptstraßen, die am Theater vorbei führen, zum Erliegen kam. Auch der Ehrengast Haile Gebreselassie blieb im Stau stecken und fuhr unverrichteter Dinge in sein Büro zurück. Die Polizei löste schließlich den Massenauflauf auf – glücklicherweise ohne Blutvergießen und Verhaftungen.

Workshops

Foto: Britta Winzheimer

Besser lief es dann bei den sieben Workshops mit jeweils etwa 500 Listros. Bevor die Listros ihre alten Boxen gegen neue tauschen konnten, mussten sie noch ihre „Botschaften an die Welt“ verfassen. Zu jeder Box der insgesamt etwa 3.500 Boxen gehört also eine Botschaft des jeweiligen alten Besitzers der Box. Dawit Shanko: „Es entstanden 3.500 beeindruckende Lebensweisheiten und aufrüttelnde Botschaften der Listros, die unsere Bildungsarbeit in Deutschland bereichern.“ 

Nach der Tauschaktion folgten rasch weitere Herausforderungen auf der Reise der Boxen nach Berlin.

Der Irrweg aus Addis Abeba nach Berlin

Foto: Britta Winzheimer

„Diesen Dreck will niemand in Berlin. Das ist ein Irrtum, wir wurden betrogen, Ato (Herr) Dawit Shanko will nicht die gammligen Schuhputzboxen in Berlin, sondern uns die Listros, damit wir mit den Berliner Listros Erfahrungen austauschen“. Mit solcher Klage demonstrierten einige aufgehetzte Listros Ende Juli 2010 in Addis Ababa vor der Zentrale des äthiopischen Fernsehens. Tatsächlich, im Amharischen, der Verkehrssprache in Äthiopien, heißen sowohl die Schuhputzer als auch die Schuhputzboxen „Listro“. Deshalb rief der zuständige Redakteur von Ethiopian TV beim Listros Verein in Berlin an und bat um Aufklärung. 

Dawit Shanko bedauerte das „Missverständnis“: „Aber akzeptieren kann ich es nicht. Denn bei der Tauschaktion „alte gegen neue Listro-Boxen“, die der Listros Verein in Addis Abeba organisierte hat, war ausführlich über die Ziele und Bedingungen der Aktion berichtet worden.“  Auch die äthiopischen Zeitungen und das Radio hatten berichtet. Alemayehu Seife-Selassie schrieb im Wochenblatt  „Ethiopian Reporter“ vom 3. Juli 2010 nicht ganz detailgenau: „5.000 Schuhputzboxen werden im September nach Berlin verschifft, im Zusammenhang eines Internationalen Schuhputztags, an dem sich 2800 Berliner Oberschüler beteiligen."

Das Exportverbot

Foto: Paul Schäfer

Um Äthiopien verlassen zu dürfen und in Europa hereingelassen zu werden, mussten diverse Zertifikate beschafft werden. Die größten Schwierigkeiten bereitete das äthiopische Büro des Bonner Sekretariats des Artenschutzabkommens. Dawit Shanko: „Dort kam man auf die aberwitzige Idee, die Boxen könnten aus Tropenholz hergestellt sein, dessen genetische Eigenschaften vor europäischer Genpiraterie geschützt werden müssten. Auch andere Export-Behörden hatten absolut kein Verständnis für unser Anliegen. Erklärten schon die Listros ihre eigenen alten Boxen für Dreck, so verstanden die Staatsbeamten mit Krawatte, Anzug und von Listros glänzend geputzten Schuhen erst recht nicht, wer solch einen Plunder haben wollte. Sie vermuteten Betrug. Schließlich glaubte das äthiopische Finanzministerium, ein Machtwort sprechen zu müssen und verfügte ein Verbot der Ausfuhr der Boxen mit der Begründung, sie würden das Ansehen Äthiopiens beschmutzen.“

In diesem Fall - zum Glück – mahlten die Mühlen der äthiopischen Verwaltung aber so langsam, dass zum Zeitpunkt, als das Finanzministerium seine Entscheidung veröffentlichte, die Boxen sich schon längst auf dem Weg nach Berlin befanden. Am 27.07.2010 begann die Reise der 3500 Boxen und der Botschaften in Addis Abeba. 1.500 km legten sie im Lastwagen nach Dschibuti zurück. Es folgte eine 15.000 Kilometer lange Seereise über das Rote Meer – auf der sie glücklicherweise von somalischen Piraten verschont blieben –, ein kurzer Aufenthalt im Jemen und dann die Fahrt durch den Suezkanal, das Mittelmeer, den Atlantik, den Ärmelkanal bis nach Hamburg. Vom Hamburger Hafen gelangten sie in das europäische Zentrallager von Kiwi in Gorzow Polen, von wo aus sie in einem Lastwagen nach Berlin gefahren werden sollten. Doch die es warteten noch einige Hindernisse auf die Boxen ehe sie an ihren Bestimmungsort gelangten.

Ein Gesundheitsrisiko

Foto: Britta Winzheimer

Aber als die polnischen Kiwi-Mitarbeiter den Container öffneten, schlug ihnen bestialischer Gestank entgegen. Die vielfach mit Hühnerkot verdreckten Boxen waren verschimmelt und zum Gesundheitsrisiko geworden – so jedenfalls sahen es die Kiwi-Verantwortlichen.

Was war geschehen? Die Workshops in Addis waren buchstäblich in die Wassergüsse der großen äthiopischen Regenzeit gefallen, die 2010 sintflutartige Ausmaße angenommen hatten. Obwohl zur Zwischenlagerung in Addis beim Fußballstadion eine große Halle günstig gemietet werden konnte, waren die Boxen so stark von Wasser durchtränkt, dass sie nicht mehr bis zum Transport trocken wurden und im Container schimmelten. Ein weiterer Schaden: die Zettel mit den Namen und Adressen der alten Besitzer der Boxen waren von den Boxen abgefallen, so dass die Botschaften der Listros nicht mehr einer ganz bestimmten Box zugeschrieben werden können.

Kiwi forderte Dawit Shanko ultimativ auf, dem sofortigen und vollständigen Verbrennen der Boxen zuzustimmen. Dawit Shanko: „Das konnten wir nur verhindern, indem wir auf das Befüllen der Boxen mit Schuhpflegematerial verzichteten und dem unverzüglichen Lastwagentransport nach Berlin zustimmten. Dort gelang es uns aber nicht, in wenigen Stunden ein geeignetes Lager zu einem erschwinglichen Preis zu finden.“

Ankunft in der Kurfürstenstrasse

Die Boxen kamen um 12:00 Uhr am 10.09.2010 in der Listros-Galerie an, also pünktlich am Tag des äthiopischen Neujahrstag 01.01.2003, vielleicht ist das die Ironie des Lebens.  Die Boxen mussten im Hof der Listros Galerie zwischengelagert werden. Es dauerte nicht lang, bis ein Mitbewohner die Hausverwaltung und die Polizei alarmierte wegen Gestanksbelästigung und Gesundheitsschädigung durch die Boxen. Wenig später erschienen zwei Politessen in der Listros Galerie und erklärten freundlich: „Wenn die Boxen nicht sofort weggeschafft werden, lassen wir sie durch die Berliner Stadtreinigung auf ihre Kosten entsorgen.“ Die Hausverwaltung drohte mit fristloser Kündigung.

Reinigung der Boxen

„Wie oft in der siebenjährigen Geschichte des Listros, gemeinnütziger e.V.“, berichtete Dawit Shanko, „erschien jedoch ein anderer Mitbewohner der Kurfürstenstraße 33, der Architekt Ernst Kraft, als rettender Engel. Er war begeistert vom Kunstensemble der Boxen im Innenhof und besorgte rasch eine leere Fabrikhalle. Dort konnten die Boxen bis zu ihrer Installation bei der Ausstellung in den Potsdamer Platz Arkaden getrocknet und gereinigt werden.“