Interview mit Dawit Shanko, Initiator, Gründer und Ideengeber der Initiative LISTROS e.V. Er war zwölf, als er in seiner Geburtsstadt Addis Abeba zum ersten Mal selbst Schuhe putzte. 1985 bekam er als 17jähriger ein Stipendium und kam nach Deutschland.

Dawit Shanko präsentiert heute eine begehbare Installation aus äthiopischen Schuhputzboxen auf der „Weltausstellung Reformation – Tore der Freiheit“, die vom 20. Mai bis zum 10. September 2017 anlässlich des 500 jährigen Reformationsjubiläums in Lutherstadt Wittenberg stattfindet.


Hallo Dawit. Du wirst eine aufsehen erregende Installation auf der Weltausstellung der Reformation präsentieren. Woraus besteht dein Werk? 

Dawit: 
Die begehbare Freiluftinstallation besteht aus einem nach oben offenen Raum aus 3.500 äthiopischen Schuhputzboxen, Die Listro-Boxen bilden einen tempelartigen Bau von hohem ästhetischen Anspruch, der zur Einkehr und zum Besinnen einlädt und einen mitnimmt auf eine Reise durch die Strassen von Addis Abeba. Zu hören ist dort eine Audioinstallation aus Briefen, die die ehemaligen Besitzer der Boxen an die Welt geschrieben haben. 8 deutsche Schauspieler leihen den äthiopischen Schuhputzern ihre Stimmen.

Was sind Listros denn eigentlich?

Wörtlich übersetzt bedeutet „Listro“ in der äthiopischen Landessprache Amharisch „zum Glänzen bringen“. Sowohl Schuhputzer als auch Schuhputzboxen werden „Listro“ genannt. Mit dem Kunstwort „Listros“ sind nicht nur Schuhputzer gemeint, sondern alle, die in jungen Jahren Nüsse verkaufen, Messer schleifen oder Fahrräder reparieren. Einerseits verdienen sie auf diese Weise ihren Lebensunterhalt und unterstützen ihre Familien, andererseits finanzieren sie so aber auch ihren Schulbesuch. Die armen Verhältnisse, in denen Listros aufwachsen, lassen sie früh als Persönlichkeiten reifen und Verantwortung übernehmen. Im Vergleich zu ihren Altersgenossen in Deutschland haben sie oft höhere Ansprüche an sich selbst und klarere Vorstellungen von ihrem weiteren Lebensweg.    

Was haben äthiopische Schuhputzer mit Martin Luther zu tun?

Analog zu den 95 Thesen Martin Luthers, habe ich für die Weltausstellung der Reformation 95 Briefe äthiopischer Schuhputzer ausgesucht, um sie in Wittenberg zu präsentieren. Die Botschaften der jungen Menschen sind vielfältig. Einige erzählen sehr persönliche Geschichten, andere berichten über ihre Kunden als einem Spiegelbild der Gesellschaft. Wir erfahren etwas über die Familien der Listros, ihre Fragen an die Politik und ihre Wünsche für die Zukunft. Aber alle haben etwas gemeinsam: Sie wollen die Gesellschaft verändern und ihren Beitrag dazu leisten. Die Briefe der Listros sind Beispiele dafür, dass es auch 500 Jahre nach der Reformation Menschen gibt, die Impulse in die Welt senden[C1] .[C2]  Der Evangelische Kirchentag steht dieses Jahr unter dem Motto „Du siehst mich.“ Der Brief eines Listro scheint eine direkte Antwort auf dieses Motto zu sein: „Liebe Welt, ich bin Dein Sohn. Auch die anderen, die mich nicht wahrnehmen. Vielleicht siehst Du das, vielleicht auch nicht. Ich sehe Dich.“

In welcher Beziehung stehen die Briefe zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten, etwa über Geflüchtete?

Mit ihrer Zuversicht und Eigeninitiative tun Listros alles, was ihnen möglich ist, um sich langfristig aus der Armut zu befreien. Die Flucht nach Europa ist für sie noch kein Thema. Stattdessen entwickeln sie Visionen, um ihr Land zu führen und zu verändern. Die Briefe vermitteln Botschaften der Hoffnung und werfen zugleich Fragen auf, die uns alle betreffen. Sie laden zu einem Perspektivwechsel ein, appellieren an unsere globale Verantwortung und fordern uns auf, die Jugendlichen bei ihrer Bemühungen in ihrer Heimat zu unterstützen, wo sie jetzt gerade sind. Wird die Welt sie darin nicht bestärken und nicht unterstützen, wird die nächste Generation diese Hoffnung nicht mehr haben und ihr Glück woanders suchen.

Gibt es für die Besucher auch eine Möglichkeit, sich zu den von den Briefen der Listros  aufgeworfenen Fragen zu äußern?

Das Projekt lädt die Besucher zu einem Dialog mit der arbeitenden Jugend von Äthiopien ein. Nach dem Besuch der Installation haben Gäste die Möglichkeit, eigene Eindrücke und Ideen auf einer Wandtafel zu verewigen. Außerdem können sie „Briefe an die Welt“ als Postkarten versenden. Ein mobiles Studio steht ihnen zur Verfügung, von dem aus Besucher Audio- und Videobotschaften versenden können, die wir dann über Medien und soziale Plattformen weiterverbreiten. Schüler sind im Rahmen von Workshops eingeladen, für einen Tag in die Rolle der Listros zu schlüpfen, den Besuchern der Reformation die Schuhe zu putzen und ihre Erfahrungen anschliessend zu diskutieren und kreativ zu verarbeiten.

Du hast Listros e.V. 2003 in Berlin gegründet. Wie lässt sich die Arbeit des Vereins beschreiben? 

Die Initiative versteht sich als eine Kampagne für die Wertschätzung der von jungen Menschen geleisteten Arbeit. Der Motor unserer Vision ist die Kunst. Über 160 Künstler haben die Lebenssituation der äthiopischen Listros bis dato thematisiert und Kunstwerke für die Arbeit des Vereins gestiftet. Die aus diesen Werken entstehende, ständig wachsende Kunstsammlung „A Dream In a Box“ trägt die Botschaft der Initiative in Wanderausstellungen rund um die Welt. In einem Architekturwettbewerb haben wir Stadtmöbel für Schuhputzer in Äthiopien entwerfen lassen, die dort bis heute genutzt werden. Außerdem initiieren wir regelmässig Bildungsprojekte in Äthiopien und Deutschland und solche, die den Austausch von Jugendlichen und zuletzt auch Musikern beider Länder fördern.

Du stammst selbst aus Äthiopien. Welches Schlüsselerlebnis hat Dich zum Botschafter der Listros gemacht?

Ich habe mit zwölf Jahren selbst als Schuhputzer gearbeitet. Ich fühle mich noch heute als Listro, in dem Sinne, dass ich anderen Menschen diene, Eigeninitiative ergreife, mutig bin und bisweilen ungewöhnliche Wege beschreite. Aus der Distanz sieht man aber auch vieles klarer. Leider wird den Listros in Äthiopien selbst oft das Gefühl vermittelt, in ihrer eigenen Heimat nicht willkommen zu sein. Das hat viel mit Unwissenheit zu tun, und deshalb leistet die Initiative eine Aufklärungsarbeit, denn sie sind ein wichtiger Partner der Lösung vieler Probleme und nicht das Problem selbst. Das Land ist noch nicht so reich, dass junge Menschen darauf verzichten könnten zu arbeiten. Aber sie auf dem Weg in die nächste Lebensphase zu stärken, ist in erster Linie keine materielle Frage, sondern eine des sozialen Miteinanders. Auch in Deutschland gibt es viele Menschen, die vermeintlich niedere Arbeiten verrichten. Dabei verdient jede Arbeit, die – wie ein Listro sagt – „nichts mit Stehlen und Überfällen zu tun hat“, unseren ungeteilten Respekt.     

Wie können Besucher der Weltausstellung Deine Initiative unterstützen?

Es sind meist kleine Dinge, die eine große Wirkung entfalten. Das erste, was die Besucher direkt vor Ort tun können, ist auf die Briefe der Listros zu antworten. Sie können unsere Arbeit unterstützen, indem sie ein Produkt aus unserem Shop erwerben, z.B. Kaffee aus einer Kooperative äthiopischer Bergbauern. Ich würde mich auch sehr darüber freuen, wenn Menschen die Arbeit der Initiative mit einer Spende unterstützen oder sich an einer unserer Crowdfunding-Kampagnen beteiligen, etwa für eine Publikation der Listros-Briefe, an der ich derzeit arbeite. Und natürlich freut sich der Verein auch immer über neue Mitglieder, die sich mit unserer Idee identifizieren und sie langfristig unterstützen möchten,  Mit unserer Kampagne sichern wir auf lange Sicht nicht nur den sozialen Frieden in Äthiopien, sondern auch in Europa. 

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